In
meiner Vaterstadt Lübeck liegen am Boden der Marien-Kirche zwei tonnenschwere Metallkörper, zerschmetterte Glocken. Sie sind zerknüllt wie ausgedienter Christbaumschmuck. Die ältere und kleinere der beiden wiegt vierzig Zentner; sie wurde im Jahre 1508 als Sonntagsglocke von Heinrich von Kampen gegossen und läutete 434 Jahre lang. Die größere wiegt 144 Zentner, sie wurde von Albert Benningk in der nahe liegenden Glockengießerstraße
hergestellt. Sie läutete vom 1. Advent 1669
- 1942, 273 Jahre lang. Dann stürzen beide Glocken am 29. März 1942 unrettbar durch den brennenden Dachstuhl zu Boden.
Zu Ostern, in der mondhellen und sternenklaren Nacht vom 28. auf den 29. März 1942, 2 Tage vor meinem zweiten
Geburtstag, nehmen 234 Bombenflugzeuge
Kurs auf die alte Hansestadt Lübeck. Der Angriff beginnt um 22:30 und
dauert fast drei Stunden. Nach 20 Minuten frisst sich eine Feuerwand am
Ufer der Trave entlang, bald fegen Feuerwellen durch mehr als 1500
Häuser, schließlich brennen 130 Kilometer Straßenfront. Dies ist der
erste Feuersturm des Krieges in einer deutschen Stadt.
320
Menschen sterben, so viele wie bei keinem Angriff zuvor. Binnen 175
Minuten fallen 144 Tonnen Brand- und 160 Tonnen Sprengbomben auf Lübeck. Wenige Tage später brennt Rostock und dann fliegen 1000 Bomber Köln an und zerstören 3300 Gebäude. Im Jahr darauf erlebt Hamburg den Feuersturm mit 40.000 Toten.
Alarmsirenen, Brummen tausender Flugzeugmotore, taub machender
Explosionen, Wellen, die es braucht um Bombenfracht zielgenau
abzuladen, wankende Erde, feuerroter Himmel, heulendes, glutrotes
Flammenmeer, strahlende Hitze und merkwürdig erfrischende, kühle
Luft in Richtung der Feuer. Schließlich, wenn alles vorbei, die
bewegungslosen Toten, schmerzende Stille, schreien, weinen, stöhnen.
Wehrmachtsfunk berichtet wen es getroffen hat. Das wird bis 1945
Normalität in den meisten großen Städten Deutschlands. Mit zwei
Jahren frage ich: "Mama, ist das Kino?"
Tags darauf, Ostersonntag, wird sichtbar: Die vom Wasserlauf der Trave und dem Kanal umschlossene Altstadt mit ihren Fachwerken, mit verwinkelten Straßen und Gassen, aus denen sich die sieben Türme Lübecks erheben, ist nicht mehr. Binnen
Stunden ist die einst führende Stadt der Hanse ein Trümmerfeld. In einem ersten Bericht heißt es: Zu 80 Prozent sei die „eigentliche Altstadt“ vernichtet, „Gasversorgung ausgefallen, Lübeck ohne Verbindung mit der Umwelt. Bahnhof, Empfangshalle, Wartesaal, Betriebsräume ausgebrannt. Straßenbahndepot ausgebrannt. 50 Prozent der Straßenbahnwagen vernichtet. Öffentliche Gebäude: Dom, Museum, Marienkirche, Petrikirche vernichtet.“
Friedel Heidrich bleibt
neben den Türmen der Marienkirche nebst ihrer Wohnung in der
Hueckstr. unversehrt.
Sie ist Kapitänswitwe, hat interessante Sachen und ich höre ihren
Erzählungen gerne zu. Um die
Ecke steht jenes berühmte Haus in der Mengstraße Nr.
4, wo man tagein, tagaus die Glocken von St. Marien hören konnte. Es
blieb
völlig unversehrt. Kellergewölbe und Fassade bleibt unbeschädigt, weil es ja schon seit über vier Jahrzehnten gar kein richtiges Haus mehr war, sondern längst ein Stück Literaturgeschichte – Schauplatz von Thomas Manns 1901 erschienenem Roman "Buddenbrook, Verfall einer Familie"
(Leseprobe).
Dies brachte dem Lübecker Schriftsteller 1929 den Literaturnobelpreis ein, zu einer Zeit, als dieser schon längt
seine Heimatstadt verlassen hatte und in seiner Wahlheimat
München lebte. Dort hat er mehr Zeit verbracht, als in seiner Geburtsstadt Lübeck.
"Hat
Deutschland geglaubt, es werde für die Untaten, die sein Vorsprung in
der Barbarei ihm gestattete, niemals zu zahlen haben?" Die Nachricht von der Zerstörung Lübecks erreicht Thomas Mann im kalifornischen Exil, und die Worte, die er dann in einer Rundfunkansprache an seine deutschen Hörer richtet, bringen ihm an der Trave wenig Sympathien ein: „Beim jüngsten britischen Raid über Hitlerland hat das alte Lübeck zu leiden gehabt. Das geht mich an, es ist meine Vaterstadt. Die Angriffe galten dem Hafen, den kriegsindustriellen Anlagen, aber es hat Brände gegeben in der Stadt, und lieb ist es mir nicht, zu denken, dass die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Rathaus oder das Haus der Schiffergesellschaft sollten Schaden genommen haben. Aber ich denke an Coventry – und habe nichts einzuwenden gehabt gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss.“
Wer heute nach Lübeck kommt, der muss freilich annehmen, dass nun alles längst bezahlt sei. Thomas Manns herrliches Renaissance-Rathaus steht da, der Dom und die Petrikirche.
In der Mengstraße 4 strahlt die großbürgerliche Fassade des
Buddenbrookhauses,
und ihm gegenüber erhebt sich das gewaltige Hauptschiff der
Marienkirche, ein Monument der Backsteingotik, das unerreichte Vorbild von über hundert Kirchen des Ostseeraums. |
In der Kirche liegen die beiden zerschmolzenen Glocken, an deren Geschichte eine kleine Hinweistafel erinnert.
Neue Glocken sind im Turm hochgezogen. Im Kirchenshop liegt, neben Ansichtspostkarten und mancherlei Stadtführern, auch der Nachdruck des 1866 bei H. G. Rathgens in Lübeck erschienenen Bandes „Der Todtentanz in der Marienkirche zu Lübeck“ aus. Der Totentanz selbst, ein Wandrelief, 1463 entstanden, 1701 kopiert und mit einem neuen Text versehen, ist nach seiner Zerstörung im Jahre 1942 nicht rekonstruiert worden.
Auf Reproduktionen kann man sehen, wie da Papst und Bischof, Arzt und Edelmann ihrer irdischen Bestimmung zugeführt wurden.
Heute, wenn man sich Lübeck nähert und die modernen Zweckbauten am
Lindenplatz und an der Moislinger Allee übersieht, erscheint die Altstadt mit ihren charakteristischen sieben Türmen kaum verändert. Das Straßenbahndepot ist
verschwunden; aber die Tanzenden mögen vielleicht nur kurz pausiert haben in ihrem immer währenden Reigen der Vergänglichkeit vor
einer unvergänglich scheinenden Kulisse.
Doch
solche Beständigkeit ist eine schöne Illusion, das Ergebnis einer fortwährenden Rekonstruktion, die
vormacht, was längst Geschichte ist. Das Buddenbrookhaus als zentraler
Schauplatz einer Lübecker Familiensaga ist wiedererstanden. Dabei hat
die Großmutter Thomas Manns in der Mengstraße 4 gelebt. Als "begehbarer
Roman" ist die Beletage des Hauses herausgeputzt. Vis-à-vis der
Marienkirche laden das Landschafts- und das Götterzimmer zur Überprüfung
des Leseerlebnisses ein. Es bleiben Irritationen nichts aus, weil viele Leute erwarten, bei den Manns zu Hause zu sein, aber im Sinne der literarischen Wirklichkeit doch bei den Buddenbrooks zu Gast sind.
Nur ein paar Schritte die Mengstraße hinauf, und schon wird die Breite Straße betreten. Eine Minute auf Jakobi zu und bei der Gaststätte McDonald's rechts abgebogen, ist man in der Pfaffen- und dann in der Glockengießerstraße,
dort, wo Albert Benningk anno 1669 jene große Glocke goss, die heute zertrümmert am Boden der Marienkirche liegt. Und wo seit einigen Jahren ein anderer Literaturnobelpreisträger, Günter Grass, sein Büro und
nun auch sein eigenes Museum zu Lebzeiten hat. In Danzig trommelt seine Blechtrommel
das Unglück ein, das schließlich über ganz Deutschland hereinbricht.
Auf 220 Quadratmetern im Hinterhof der Glockengießerstraße 21
sind Grafik und Plastiken von Günter Grass zu besichtigen, vielleicht auch
er selbst, wenn er der Flut der Ehrungen zu seinem 75. Geburtstag entstiegen ist. Die bildende Kunst hat Grass studiert, und sein Erfolg als Schriftsteller habe es ihm erlaubt, seinem seinerzeit völlig unzeitgemäßen Hang zum Gegenständlichen treu zu bleiben.
Heute begleitet er seine Bücher mit grafischen Zyklen und Plastiken, gab
er selbst zu Protokoll. Doch bei allem Weltruhm, bei aller Weltläufigkeit beider
Dichter mit dem Drang zu den Fettnäpfen politischen Engagements, werden der Ex-Lübecker Mann und der Neu-Lübecker Grass von ihren Lesern am liebsten in jenen Welten gesehen, denen ihre erfolgreichen Frühwerke gewidmet waren: im Lübeck der Buddenbrooks
und im Danzig der „Blechtrommel“.
Wer die schmalen Gehsteige der Glockengießerstraße entlang an den kleinen Häusern vorbei
geht, die sich dort aneinander reihen, wer da ein Häuschen wie ein Baumpilz aus einer Kirchenwand herauswachsen sieht, der wäre wohl kaum überrascht, hier den Gestalten der Danziger Trilogie zu begegnen. Alfred Evers ist dort in Gehrock und Zylinder
unterwegs gewesen, wie Konsul Buddenbrook. Mit seiner Drehorgel und dem
Verkauf seiner Lübecker Prominentenkachel hat er für das Gemeinwesen Lübeck bei Altstadtfesten manche Mark eingespielt.
In seiner Lübecker Blaugrundkachelwerkstatt hat er auch die Fassaden eingebrannt, die nicht wiederhergestellt werden konnten. Seine handsignierten Prominentenkacheln sind
indes berühmt geworden.
Die echte Buddenbrookherrlichkeit erleben Generationen durch Lesegenuss. Größer sind die Gegensätze kaum beschreibbar, kleinbürgerliche Enge
und Abnutzung sind dauerhafter als alte Patrizierherrlichkeit. Und
schließlich gilt es auch noch, Thomas Manns Zauberberg zu lesen mit
seiner engen Verbundenheit zu Hamburger Bürgerlichkeit.
Die
Ostseeausstellung des dänischen Nationalmuseums in Kopenhagen leitet den
Lübeck gewidmeten Teil mit dem Zitat Johann Gottfried Herders ein. Im
Journal meiner Reise im Jahre 1769 wird die alte Herrlichkeit der Hansestadt
beschrieben. Die war mit der Entdeckung der Neuen Welt und dem Atlantikhandel verblasst. 1895, als Thomas und Heinrich Mann ihre Heimatstadt verlassen hatten, wurde Lübeck durch die Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals endgültig in eine Randrolle gerückt.
Die Teilung Deutschlands bewirkte endgültig einen Niedergang, der sich
heute nur mühsam umwandeln lässt.
Was Thomas Mann eindringlich beschrieben hat, wird wohl noch Generationen von Besuchern nach Lübeck locken, die das Buddenbrookhaus geradezu instinktiv aufsuchen werden. Denn es ist eine Leistungen der Dichtkunst und Literatur, dass dort, wo nur Alltag und bloße Vergangenheit wahr zu nehmen ist, historische Konturen aufgezeigt
werden. Solange die Glocken der Marienkirche hoch über der Stadt hingen, hat man wohl ihren Klang, kaum aber sie selber wahrgenommen. Erst ihr Sturz hat sie zu Zeugen einer Geschichte gemacht, die sie Jahrhunderte lang mit ihren Schlägen begleitet hatten. |